Mein Rennsteigtagebuch - Mai 2022
19.05.22, 07:33 bis 21.05.22, 11:55
Wie üblich habe ich morgens am Donnerstag um 7:13 den Zug von Eisenach Richtung Bebra genommen und bin in Hörschel ausgestiegen. Nachdem ich kurz die noch immer notwendige Schutzmaske verstaut hatte, wollte ich die Gleise überqueren und Richtung Dorfkirche zum Rennsteigbeginn laufen. Schon aber senkte sich wieder die Bahnschranke und ich musste weitere fünf Minuten warten, bevor ein Güterzug passierte. Unerklärlicher Weise machte mich dieses kurze Warten nervös, ich wollte keine Verspätung. Am Rennsteigbeginn alles wie noch wenige Monate zuvor, als ich im August meinen zweiten Versuch im Jahre 2021 unternahm. Etwas enttäuschend die winzigen Kiesel, die für Wanderer bereitgestellt wurden, um sie dann in Blankenstein in die Saale zu werfen.
Am Dorfausgang dann der erste Aufstieg. Trotz der frühen Stunde war es bereits schwül. Die Wettervorhersage kündigte für Donnerstag recht hohe Temperaturen von bis zu 25° C auf dem Rennsteig an. Gegen Abend würden Gewitter aufziehen. Eine ähnliche Abfolge wurde für Freitag prognostiziert. Auf einer Karte des Deutschen Wetterdienstes sah es etwas bedrohlicher aus: von Westen näherte sich eine breite Gewitterfront, schwere Unwetter seien zu erwarten. Zunächst aber hatte ich andere Sorgen; schon nach wenigen hundert Metern war ich schweißgetränkt, kleine Fliegen stürzten sich auf Mund und Nase. Um die Fliegen zumindest teilweise abzuwehren, besprühte ich Wanderhemd und Halstuch mit einem Antiinsektenspray, peinlich darauf bedacht, Hautstellen auszusparen, um nicht schon frühzeitig eine klebrige Mischung aus Schweiß, Sonnenmilch und Insektenmittel zu erzeugen. Die würde mich wegen unzureichender Waschgelegenheiten dann die nächsten zwei Tage begleiten. Langsam nahm mit zunehmender Höhe die Belästigung durch die Fliegen ab und ich konnte mich an den schönen Buchenwäldern erfreuen, während die Sonne höher stieg. Gerade während der letzten Kilometer vor der ersten etwas längeren Rast am Imbiss „Hohe Sonne“ wurde mir wieder klar, die Berechnung der Höhenmeter für die Rennsteigwanderung ein fraktales Problem darstellt. Immer wieder ging es zwanzig, dreißig Meter hinauf und dann wieder hinunter. Noch machte mir das keine Probleme, aber ich dachte an meine, gemessen selbst an den Corona-Jahren 2020 und 2021, wenig intensive Vorbereitung. Früher hatte ich regelmäßig Streckenwanderungen von ca. 30 Kilometern unternommen, war praktisch jedes zweite Wochenende auf den Belchen gestiegen. In der letzten Zeit hatte ich auch aus beruflichen Gründen meist nur eine 12 Kilometer lange Speed-Wanderung pro Woche absolviert. Würde das reichen? Dazu kam mein Hanteltraining, bewusst aufgenommen nach der Erfahrung mit ständigen Schulterschmerzen während der letzten Rennsteigtouren.
Meine Ausrüstung hatte ich erst ganz zuletzt zusammen gestellt, wollte noch die neuesten Wetterprognosen berücksichtigen. Da mit Starkregen zu rechnen war, wählte ich meine halbhohen Trekkingschuhe, die zumindest wasserabweisend sind und meinen Goretex-Wanderhut. Beides Ausrüstungsgegenstände, die mir im Vorjahr bei Regen gute Dienste geleistet hatten. Allerdings sind sie bei hohen Temperaturen und großer Schwüle von zweifelhaftem Wert. Um zu verhindern, dass ich von innen meine Füße durchnässte, musste ich regelmäßig auslüften und dabei möglichst vorsichtig vorgehen, um das an Zehen, Ballen und Ferse befestigte Tape nicht zu verschieben. Noch ließen sich die Füße etwa hier an der „Hohen Sonne“ noch gut aus dem Schuhen nehmen, aber durch das langsame Anschwellen wurde diese wichtige Prophylaxe gegen Wundsein immer schwieriger umzusetzen. Danach der stetige Aufstieg Richtung Schillerbuche, bis auf fast 700 Meter. Zum Teil, wie zum Beispiel im Bereich der Wiederaufforstung nach dem Sturmwürfen des Orkans „Kyrill“, direkt der Sonne ausgesetzt. Zumindest waren die letzten Kilometer vor dem Erreichen der Strasse zwischen Ruhla und Steinbach jetzt gut begehbar, die intensiven Waldbauarbeiten des Vorjahres hatten aber ihre Spuren hinterlassen.
Anders als während der letzten Corona-Jahre war der Imbiss an der Schillerbuche geöffnet und ich konnte zwei Flaschen Kola kaufen. Eine trank ich sofort, die andere wollte ich zusätzlich zu den 3,5 Litern eingeplanter Flüssigkeit als Muntermacher für die lange Durststrecke von 60 Kilometern zwischen Inselsberg und Neustadt verwenden. Ein kurzes Gespräch mit den Wirtsleuten, dann ging es weiter. Der Aufstieg zum Großen Inselsberg erwies sich wieder als schweißtreibend. Besonders der lange Anstieg zum Oberen Beerberg lag in nach einem Kahlschlag offen in ganzer Länge vor mir, nicht mehr durch Bäume verdeckt.
Im Berggasthof dann traditionell Kola, Kaffee und ein Stück Apfelkuchen (ohne Sahne!) bestellt. Zwar waren erst knapp 20 Prozent des Weges geschafft, aber der Anstieg von knapp 200 auf über 900 Meter Meereshöhe, noch vermehrt um viele kleinere Höhenverluste und Wiederanstiege markierte eine positiv besetzte Zäsur: die nächsten 30 Kilometer bis Oberhof, ja selbst die nächsten 60 Kilometer bis Neustadt würden keine vergleichbaren Höhendifferenzen beinhalten. Und außerdem versprach der Weg auf durchgehend recht hohem Niveau geringere Belastung durch Schwüle.
Also auf in den gewohnt langen Weg in die Nacht! Die Schulterschmerzen, geringer als in den Vorjahren, waren gut mit Arnikasalbe in den Griff zu bekommen. Allerdings nahmen die Fußprobleme zu: solange keine Regenhose im Weg war, konnte ich die Waden regelmäßig mit Arnikasalbe massieren, doch in den Schuhen schmerzten die Füße, schwollen weiter an. Wie schon in der Wettervorhersage prognostiziert, wurde im Westen eine gewaltige Gewitterfront sichtbar, die sich stetig näherte. Da ich plötzlich einsetzenden Starkregen fürchtete, zog ich trotz weiter hoher Temperaturen und Sonnenschein zumindest meine Regenhose an. Das erschwerte aber weiter die Möglichkeit zur regelmäßigen Pflege und Lüftung von Füßen und Waden.
Bislang ohne Verdauungsprobleme, schluckte ich vorsichtshalber zwei Tabletten Immodium, da Darmbewegungen auf Durchfallgefahr hinwiesen. Das wäre schlecht bei Regen und in Regenbekleidung! Noch bei der Ebertswiese bei Kilometer 45 alles trocken, setzte wenig später einige hundert Meter vor der Schutzhütte zur „Alten Auspanne“ plötzlich Sturm ein. Entlang des Weges wurden Staub und Zweige aufgewirbelt und ich zog so schnell wie möglich die Regenjacke an. Blitze und Donner, und ich versuchte, abseits des durch einseitigen Kahlschlag recht exponierten Weges im Waldrand zu gehen, um nicht als isolierte Erhebung ein mögliches Ziel für Einschläge zu bieten. Der Regen setzte ein, wurde schnell stärker. Gerade als die Front mich dann direkt überquerte, erreichte ich zum Glück die Hütte.
Als der Regen dann etwas abflaute, setzte ich den Weg Richtung „Neue Ausspanne“ fort. Wie schon im Vorjahr war der Waschraum am Parkplatz wieder geöffnet, man musste nur ein 50-Cent-Stück bereit haben. Das hatte ich soweit eingeplant und nutzte die Gelegenheit, einmal Zähne zu putzen und meine Wasserflaschen aufzufüllen. Das Wasser sollte laut Hinweis nicht Kleinkindern zum Trinken gegeben werden, sei aber ansonsten unbedenklich. Nach meinen Erfahrungen der Vorjahre hatte ich da keine Bedenken. In der Folge traute ich mich auch nach Abflauen des Regens nicht mehr, Regenhose und Jacke auszuziehen. Aufgrund der zunehmenden Dunkelheit wurde es immer schwieriger, die Wetterlage in der Nähe korrekt einzuschätzen. Durch Regen, Dunkelheit und Höhenlage von knapp 900 Metern nahmen zumindest Schwüle und Temperatur ab.
Trotzdem musste ich während meiner ca. 45 minütigen Pause in der Schutzhütte an der Grenzadlerkaserne keine Alufolie als Kälteschutz nutzen, mein Funktionspulli reichte als zusätzliche Kälteisolierung. Ich legte mich auf die schmale Tischbank und versuchte, Gelenke und Muskeln durch Streckgymnastik zu entspannen. Um kostbare Zeit für die körperliche Erholung zu sparen, behielt ich die Schuhe an – durch die Schwellung der Füße wurde das Aus- und Anziehen immer zeitaufwändiger. Vielleicht an der falschen Stelle gespart… Wenig überraschend setzte nach der Pause starke Müdigkeit ein und leider konnte auch die aufgesparte Flasche Kola daran nicht viel ändern. Ich wusste, dass diese Müdigkeit bis Neustadt in ca. 30 Kilometer Entfernung stetig anwachsen würde. Erst ein starker Kaffee dort würde mich wieder fit machen. Leider habe ich bis jetzt kein adäquates Mittel gefunden, mich ohne Kaffee munter zu halten. Koffeintabletten, Kola und Energy-Drinks erwiesen sich in der Vergangenheit als wirkungslos, konnten bestenfalls eine kurze Erfrischung hervorrufen. Doch dieser Push wurde bei Wiederholung immer geringer und hielt immer weniger lange an. Als am Morgen die Sonne ab ca. 5 Uhr aufging, stiegen die Temperaturen wieder an und nach längerem Zögern zog ich dann kurzzeitig Regenhose und -Jacke aus. Aber gerade dann wieder Aufzug dunkler Wolken und einsetzender Regen beim Anstieg nach Neustadt, der schnell stärker wurde. Gerade jetzt, als ich mich nach dem geplanten Einkauf zur Frühstückspause auf eine überdachte Bank in der Nähe des örtlichen Supermarktes setzten wollte, die nur wenig Schutz bei Wind und Starkregen versprach! Deshalb bestellte ich zunächst im Bäckerei-Sitzbereich des Supermarkts erst einmal eine aufgewärmte Mini-Pizza und einen großen Kaffee, wollte den schlimmsten Regen abwarten. Nach etwa zwanzig Minuten ging ich dann einkaufen: Wasser, Eistee, Brötchen, Camembert und außerdem ein fertig belegtes Pute-Ei-Sandwich. Schon bei der Zubereitung der Brötchen mit dem Käse und jeweils einer Scheibe roter Paprika merkte ich, dass mir der rechte Appetit auf die doch einigermaßen trockene Kost fehlte. Dagegen schmeckte mir das mayonnaise-getränkte Fertigsandwich ausgezeichnet! Beim Aufbruch doch dann schmerzende Füße, so dass ich den Aufstieg zur Tankstelle am Ortsausgang eher humpelnd absolvierte. Dort kaufte ich, auch traditionsgemäß, einen zweiten Kaffee-to-go und nutzte die Gelegenheit, eine saubere Toilette zu benutzen – dank der Wirkung der Immodiumtabletten wäre dies aber gar nicht nötig gewesen. Aufgrund der wechselhaften Witterung mit ständiger Regengefahr getraute ich mich nicht, die Regenhose auszuziehen. So war ich völlig durchgeschwitzt nach dem langen Aufstieg vor Masserberg durch einen schier endlos sich den Hang hinaufwindenden, schuttbedeckten Hohlweg.
Zwischenzeitlich sonnig war es weiter warm, aber zunehmend windig. Gegen 19:00 erreichte ich dann meine nächste Pausenstation, eine Tankstelle am Ortseingang in Neuhaus. Eistee, Scho-ka-Cola und Mineralwasser eingekauft. Leider gab es anders als im Vorjahr leider kein belegtes Käsebrötchen.
Gegen alle Gewohnheit habe ich mich noch bei Helligkeit im Waldstück ausgangs Neuhaus verlaufen. Zwar war der Zeitverlust gering, aber mir schien es kein guter Anfang für die heranziehende zweite Nacht meiner Wanderung. Es dämmerte schon, als ich den Aussichtspunkt Frankenwaldblick erreichte. Dort im weitgehend kahlen Kammbereich erkannte ich, dass eine aufziehende Gewitterfront Grund für die vorfristig einbrechende Dunkelheit war. Ich wurde doch etwas nervös, wollte möglichst schnell die exponierten Lagen verlassen. Und so passierte es, dass ich an einer unübersichtlichen Stelle einen falschen Abzweig nahm. Nach einigen hundert Metern durch offenes Terrain erreichte ich wieder Wald und musste feststellen, dass keinerlei Rennsteig-Markierungen vorhanden waren. Also wieder zurück zur Weggabelung, über matschigen Boden und im Gewitterregen. Endlich kam ich wieder zu einem mir bekannt vorkommenden Wegstück und erreichte später den langen Abstieg nach Spechtsbrunn. Plötzlich setzte extremer Starkregen ein – glücklicherweise unweit einer Schutzhütte, wo ich weitere 30 Minuten wartete, um dann bei abflauendem Niederschlag den Weg fortzusetzen. Ausgangs Spechtsbrunn begann dann eine lange Strecke mit überwiegend asphaltierten Rad- und Wanderwegen, entlang der ehemaligen innerdeutscher Grenze und der Frankenwald-Hochstraße. Diesmal konnte ich dieses überwiegend eintönige Wegstück gut bewältigen, rechnete mir anhand der vergangenen Zeit aus, wann ich den sehnsüchtig erwarteten, beleuchteten Wasserscheiden-Obelisken eingangs von Steinbach im Wald erblicken würde. Es motivierte mich, dass ich diesen Zeitpunkt ziemlich genau vorausgesagt hatte. Am Ortsausgang Steinbach bin ich dann frühzeitig auf die linke Straßenseite gewechselt, um den dortigen Verlauf des Rennsteiges rechtzeitig wieder aufzunehmen. Und tatsächlich fiel mir eine freistehende Rennsteigmarkierung auf und ich entdeckte im Gebüsch dahinter die im letzten Jahr vergeblich gesuchte überdachte Bank. Ich zog mir sämtliche Kleidungsstücke an und wickelte mich in meine Alufolie. Vorsichtshalber stellte ich meinen Handy-Wecker so ein, dass ich 45 Minuten ruhen konnte. Allerdings fror ich derart im kalten Wind, dass der Wecker unnötig war und ich bereits früher als geplant wieder aufbrach. Beim Wiedererreichen der Grenze zwischen Bayern und Thüringen begann es zu dämmern und wir wurde bewusst, dass ich jetzt langsamer unterwegs war als im letzten Jahr.
Wenig überraschend nahm mein Appetit stetig ab, neben einigen Nüssen und Rosinen war nur noch Energy-Gel verträglich. Meine übrigen Powerbar-Produkte hatte ich bereits aufgebraucht, das letzte Brötchen mit Camembert verursachte fast ein Ekelgefühl. Nach Durchquerung von Brennersgrün wechselte der Weg kurzzeitig wieder auf bayrisches Gebiet und trotz aller Erschöpfung stieg meine Aufmerksamkeit, als ich mich der Stelle näherte, an der ich im Vorjahr zu früh zum letzten Anstieg vor Grumbach abgebogen und den Weg, damals noch im Dunkeln, fast eine Stunde lang vergeblich im Unterholz suchte.
Wenig spektakulär der Weg bis Rodacherbrunn, bevor ich auf die von mir fast gefürchtete Waldschneise einbog, eine kilometerweite Gerade lag vor mir. Aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit bin ich schließlich zu früh rechts abgebogen und habe mir den Fehler erst sehr spät eingestanden. Wohl mehr als zwei Kilometer Umweg waren das Resultat, mit entsprechendem Zeit- und Kraftverlust kurz vor dem Ende. Als mein Blick später vor Schlegel nach Verlassen des Waldes auf wogende Korn- und Rapsfelder fiel, fühlte ich mich dem Ziel schon sehr nahe. Aber es lagen immer noch fast fünf Kilometer vor mir, ein Großteil der Strecke entlang der Straße Richtung Blankenstein.
Kurz vor Erreichen der Ortseinfahrt biegt der Weg rechts in eine Kleingartenkolonie ab und folgt dann steil abfallenden Nebenstraßen bis zum Bahnhof. Ich überquerte dort die Gleise und stand dann gegen 11:55 Uhr am Ufer der Saale. Ich kramte den kleinen, in Hörschel eingesteckten Kiesel aus meiner Hemdtasche und warf ihn in den Fluss. Starke Fußbeschwerden machten sich jetzt bemerkbar, lange immer wieder erfolgreich unterdrückt. Aufgrund der knappen Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges Richtung Saalfeld um 12:38 machte ich mich bald auf, langsam humpelnd zurück zum Bahnhof aufzusteigen – und habe so mein Zielfoto vergessen.
This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.